Es gibt Dinge, mit denen wir unsere Leserinnen und Leser normalerweise nicht zu behelligen pflegen. Erbrochenes von sich-übergebenden Meeressäugetieren steht auf der Liste jener Themen, die in unserem Online-Journal traditionell nicht ausgiebiger beleuchtet werden, sicherlich ganz weit oben...
Und doch ist es genau das, was im Mittelpunkt der folgenden Zeilen steht! Eine aktuelle Pressemeldung macht´s möglich: Wie in dieser Woche u.a. die Huffington Post berichtete, hat ein achtjähriger Junge namens Charlie Naysmith kürzlich bei einem Strandspaziergang in Hengistbury Head bei Christchurch in der südwestenglischen Grafschaft Dorset einen merkwürdig anmutenden, rund 600 Gramm schweren, wachsartigen Klumpen gefunden. Manch ein Anderer hätte das klobige Fundstück wohl für einen wertlosen Stein gehalten und unbeachtet am Strand liegen lassen – doch der kleine Charlie nahm es, neugierig geworden durch den eigentümlichen Duft, der dem seltsamen Brocken entströmte, mit nach Hause.
Dort stellte sich bald heraus, dass es sich bei dem unförmigen Ding vom Strand um einen veritablen Schatz handelt, der immerhin bis zu 50.000 Euro wert sein könnte: Ambra!
Ambra, das ist eine Substanz, die im Körper des Pottwales gebildet wird – und deren Herkunftsgeschichte alles andere als appetitlich erscheint: sie gelangt nämlich durch Erbrechen des Tieres oder gar über dessen Exkremente als Kotsteine ins Meer. Wie und warum sie genau entsteht ist nicht mit letzter Gewissheit erforscht; als möglich erscheint, dass Ambra dem antibiotischen Verschließen von Wunden bei Verletzungen der Darmwand dient, als eine Art natürliches Pflaster also.
Eine Abwandlung dieser Theorie besagt, dass unverdauliche Speisereste von Tintenfischen & Co. im Magen des Pottwals von der wachsartigen Ambra eingehüllt werden, um Darmverletzungen zu vermeiden.
Fest steht jedenfalls, dass Ambra selbst noch längere Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Körper des Pottwals nicht eben angenehm riecht. Kein selbst noch so ausgeflippter Parfümeur käme daher wohl auch nur im Traum auf die Idee, Ambra in ihrer ursprünglichen Form einem edlen Parfum beizumischen. Erst nachdem die Substanz jahre-, vielleicht sogar jahrzehntelang vom Meerwasser umspült und „bearbeitet“ wurde und dann trocknet, erhält sie den charakteristischen, delikaten „Ambra“-Duft, den wir aus den Basisnoten zahlreicher Parfums kennen und den etwa Christopher Kemp in seinem Sachbuch „Floating Gold: A Natural (and Unnatural) History of Ambergris“ folgendermaßen beschreibt:
„Es fällt schwer, sich nicht in Ambra zu verlieben. Hier ist ein fester Klumpen Walkot, verwittert – oxidiert von Salzwasser, abgetragen von Sonnenlicht und erodiert durch Wellen – von einer teerartigen Masse zu etwas geworden, das, je nachdem, was für ein Stück man hat und mit wem man sich darüber unterhält, wie Moschus, Veilchen, frisch geschlagenes Holz, Tabak, Schmutz, Paranuss, Farn-Gestrüpp, feuchter Wald, frisch gemähtes Heu, Algen in der Sonne, das Holz alter Kirchen, oder etwa wie so ziemlich jeder andere süße-aber-erdige Duft riecht“…
Die Vorstellung, dass es eine gar schwierig zu meisternde Herausforderung sein könnte, sich NICHT in einen alten, von Salzwasser und Sonnenlicht ausgemergelten „festen Klumpen Walkot“ zu verlieben, klingt zwar bei erster Näherung doch erst mal reichlich gewöhnungsbedürftig – doch wer jemals den herrlich sinnlichen Ambra-Duft geschnuppert hat, wird dem tatsächlich nur schwerlich widersprechen können: Legendär sind etwa die Ambra-Basisnoten in den Creed-Düften, oder die Ambra in „Eau de Merveilles“ von Hèrmes; manche Parfums sind gar gleich ganz nach der Edel-Ingredienz aus den Tiefen der Meere benannt, wie etwa Mazzolaris „Ambra“, „Ambre Topkapi “ von Parfums MDCI oder Rania Js köstliche Parfumkomposition „Ambre Loop“.
Wie es in der Duftbeschreibung von Christopher Kemp bereits anklingt, sind die Assoziationen, die der Ambra-Duft bei verschiedenen Menschen hervorruft, breit gefächert und reichlich unterschiedlich. Bei dem Riechstoffchemiker Günther Ohloff liest sich das beispielsweise so:
„Feucht, erdig, kotig, marin, algenartig, tabakartig, sandelholzartig, süß, animalisch, moschusartig und strahlend“.
Welch ein Kaleidoskop mannigfaltiger Duftimpressionen! In der Internet-Enzyklopädie Wikipedia hingegen wird der Duft als „zwischen holzig, trocken, balsamisch, etwas tabakartig bis bouquethaft mit aphrodisierendem Einschlag“ vorgestellt, während Christopher Ash in „Whaler's Eye“ den Ambra-Duft mit folgendem Bild beschrieb:
„Er erinnert mich immer an einen kühlen englischen Wald im Frühjahr, und an den Duft, den man riechen kann wenn man das Moos aufreißt, um den dunklen Boden darunter aufzudecken“.
Irgendwo zwischen Paranuss, Algen, Tabak, alter Kirche, feuchtem Wald und Moos, ja, sogar zwischen derbem Schmutz, frischem Heu und lieblichem Veilchen oszilliert er also, der wundersame Ambra-Duft. Für die Parfumherstellung ist die so schillernde, facettenreiche Duftkomponente seit Langem ein unentbehrliches Essential. Zwar wird die markante Duftnote heutzutage vielfach synthetisch hergestellt; gleichwohl bewegen sich die Marktpreise für den Rohstoff Ambra (oder auch „Ambre Gris“), der bereits zu mittelalterlichen Zeiten mit purem Gold aufgewogen wurde, nach wie vor in beachtlichen bis schwindelerregenden Höhen: Der jüngst von Charlie Naysmith gefundene Ambra-Brocken könnte mit seinen 600 Gramm Gewicht laut Pressemeldungen bis zu 50.000 Euro wert sein, und in den vergangenen Jahren war mehrfach von Ambra-Funden z.B. an Stränden in Südaustralien oder Neuseeland zu lesen, deren Wert sogar jeweils mit mehreren hunderttausend US-Dollar taxiert wurde. Das Wissenschaftsmagazin „P.M. – Welt des Wissens“ bringt den kuriosen Kern der Sache, der darin besteht, dass etwas auf den ersten Blick eigentlich denkbar wertlos Erscheinendes zu horrenden Preisen gehandelt wird, mit einer plakativen Überschrift recht treffend auf den Punkt: „Warum ist Walkotze so wertvoll?“, ist ein „P.M.“-Artikel zum Thema Ambra überschrieben. Ja, tatsächlich: Wer bei einem Spaziergang am Strand so einen Ambra-Brocken findet (…und auch noch als solchen erkennt!), könnte leicht für etliche Jahre ausgesorgt haben.
So rein zufällig aber, wie man nun angesichts so mancher „Glückspilz-findet-riesigen-Ambra-Klumpen-bei-romantischem-Strandspaziergang“-Meldung vielleicht glauben könnte, wird Ambra nur ganz selten gefunden. Tatsächlich gibt es, ähnlich wie auch bei den Goldsuchern, eine ganze Szene professioneller und hauptberuflicher Ambra-Sammler, die es auf einen solchen Fund regelrecht anlegen, wie Buchautor Christopher Kemp, der für sein Buch „Floating Gold: A Natural (and Unnatural) History of Ambergris“ jahrelang im Umfeld der Ambra-Industrie recherchiert hat, zu berichten weiß:
„Es gibt ein ganzes Untergrund-Netzwerk von Vollzeit-Sammlern und Händlern, die versuchen, ihr Glück mit Ambra zu machen. Sie kennen die Strände und die exakten Wetterbedingungen die notwendig sind, damit Ambra an das Ufer gespült wird“.
Dabei arbeitet man jedoch gerne diskret, betont unauffällig, ja, geradezu konspirativ; denn der Handel mit dem „schwimmenden Gold“ bewegt sich in einer legalen Grauzone – der Handel mit Pottwalprodukten ist nämlich eigentlich nach dem Washingtoner Artenschutz-Übereinkommen von 1973 verboten. Streng genommen zählt dazu auch das begehrte Strandgut „Ambra“, da es ja ursprünglich - unbestreitbar - vom Pottwal stammt.
Der deshalb mit natürlicher, nicht-synthetischer Ambra verbundene Ruch des Illegalen führt zu der recht bizarr anmutenden Situation, dass selbst renommierte Parfumhersteller, von denen das Gerücht geht, dass sie in ihren Parfums echte Ambra verwenden, dies offiziell bestreiten und dementieren. Verkehrte Welt! Sind ansonsten natürliche, nicht-synthetische Inhaltsstoffe ein besonderes Qualitätsmerkmal, auf das man von Herstellerseite stolz verweist, ist es bei Ambra genau umgekehrt: Vorsichtshalber stapelt man lieber tief und lässt verbreiten, die Ambra in der Basisnote sei synthetisch im Labor hergestellt…
Mit natürlicher Ambra gehandelt wird aber natürlich trotzdem, und das nicht zu knapp; zumal das Aufsammeln und Verkaufen etlicher Jahre alter Pottwal-Ausscheidungen dem Artenschutz der Pottwale ersichtlich nicht abträglich ist und keinem Tier in irgendeiner Weise einen Schaden zufügt. Ambra-Handel ist somit also zwar rein nach dem Wortlaut des Artenschutz-Übereinkommens illegal, wird aber tatsächlich vielfach stillschweigend geduldet – über eine Bestrafung von Ambra-Händlern hat man jedenfalls noch nicht viel gehört, geschweige denn gar von großangelegten Polizeieinsätzen bei Parfumfirmen oder Ambra-Razzien bei Luxusduft-Herstellern.
Eine gute Nachricht dürfte dies für den achtjährigen Charlie Naysmith sein, der für seinen Ambra-Brocken nun mit etwas Glück bis zu 50.000 Euro bekommen könnte. Und laut Zeitungsberichten hat der aufgeweckte, naturbegeisterte Schuljunge mit dem Geld bereits große Pläne, die ebenso tierlieb wie rührend-uneigennützig sind: Am liebsten möchte er davon ein Tierheim bauen…
Wer hätte auch gedacht, dass man mit 600 Gramm Pottwal-Exkrementen so viel Gutes tun kann?
Ambra in der Weltliteratur
Bei einer der besagten Quellen handelt es sich gar um ein Werk von weltliterarischem Rang: „Moby Dick“ von Herman Melville. Der 1851 erschienene Roman über den Walfangschiff-Kapitän Ahab und dessen Jagd auf den weißen Pottwal Moby Dick enthält nicht weniger als ein ganzes eigenes Kapitel, das dem Thema Ambra gewidmet ist:
„Dieser graue Amber“ heißt es in dem mit „Ambergris“ überschriebenen Kapitel 92, „ist nun eine höchst kuriose Substanz und noch dazu ein so wichtiges Handelsgut, dass im Jahre 1791 ein gewisser Kapitän Coffin, ein gebürtiger Nantucketer, vor dem englischen Unterhaus hierzu befragt wurde.“
Eine bemerkenswerte Information gleich zu Beginn des Kapitels: Ambra soll also schon einmal Thema im Unterhaus, also im berühmten „House of Commons“ des englischen Parlaments gewesen sein! Kann sich eigentlich irgendwer an die letzte Bundestagssitzung erinnern, in der Ambra erörtert wurde…?
Wohl kaum; aber die Herkunft der Ambra ist heutzutage ja auch geklärt und bedarf somit keiner hitzigen Parlamentsdebatten oder der Einberufung eines eigenen parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Im 18. Jahrhundert war das freilich anders; man war damals gerade erst dabei, das Geheimnis des Ursprungs der Ambra zu ergründen, die zugleich ein überaus kostbares Handelsgut war. Seinerzeit war eine Nachricht wie „Walfänger finden kiloweise Ambra im Inneren eines Pottwals!“ eine kleine Sensation, die auch die Politik aufhorchen ließ.
„Dieser graue Amber ist eine höchst kuriose Substanz und noch dazu ein wichtiges Handelsgut“: Titelseite der ersten „Moby Dick“-Ausgabe von 1851; Illustration einer Romanszene aus dem Jahr 1892
Doch was hat es nun mit Herman Melvilles Hinweis auf eine Anhörung zum Thema Ambra im englischen Unterhaus auf sich? Ist diese Angabe der dichterischen Freiheit eines Romanautoren entsprungen, also reine Fiktion – oder sollte sie womöglich auf geschichtlichen Tatsachen basieren? Bei meiner weiteren Recherche hierzu fand ich tatsächlich ein historisches Dokument, welches das komplette Protokoll genau jener Befragung aus dem Jahr 1791 enthält, die Herman Melville im Kapitel 92 von „Moby Dick“ erwähnte.
Das 1809 veröffentlichte Schriftstück trägt den Titel „The philosophical transactions of the Royal Society of London“ und belegt, dass eine solche Befragung 1791 tatsächlich stattgefunden hat. Damals gab es in London einen eigenen Ausschuss, der sich allein mit Fragen des „Handels und ausländischer Plantagen“ beschäftigte. Dieser Parlamentsausschuss wurde auf den Plan gerufen durch den Brief eines gewissen Alexander Champion, seines Zeichens ein in der Walfischerei engagierter Geschäftsmann und Eigner eines Walfangschiffes. Dieser berichtete dem Präsidenten des besagten Ausschusses, Lord Hawkesbury, von einer spektakulären Entdeckung des Schiffskapitäns Joshua Coffin, der im Körper eines vor der Küste Guineas gefangenen Pottwals „363 Unzen“ (= umgerechnet ca. 10,3 Kilogramm) Ambra gefunden hatte.
„Die Ambra kommt aus dem Magen des Wals und sie ist ein großartiges Handelsobjekt“: Marco Polo
Bis ungefähr zu dieser Zeit lag die Herkunft der Ambra weitgehend im Dunkeln. Mal wurde sie auf der offenen See treibend gefunden – mal von der Brandung an den Strand angespült. Dass sie irgendetwas mit dem Meer zu tun haben musste, lag auf der Hand; doch woher genau das wertvolle Treibgut ursprünglich stammte, darüber herrschte lange Zeit Unklarheit. Zwar hatte der venezianische Weltreisende Marco Polo bereits im 13. Jahrhundert den Ursprung der Ambra korrekt dem Wal zugeordnet:
„Die Ambra kommt aus dem Magen des Wals und sie ist ein großartiges Handelsobjekt“…
(Quelle: Marco Polo, Die Reisen des Marco Polo, Kapitel XXXII).
Doch drang diese Erkenntnis offenkundig nicht ins allgemeine Bewusstsein der Menschheit vor; denn selbst noch Jahrhunderte nach Niederschrift dieser Worte weist etwa das 1721 erschienene „Allgemeine Lexicon der Künste und Wissenschaften“ die Herkunft von Ambra weiterhin als gänzlich ungeklärt aus:
„Amber, Ambarum, Ambra grisea, Ambre gris: Eine Specerey, derer Ursprung noch nicht hat können erkundigt werden. Einige halten davor, es sey ein Hartz so aus den Bäumen schwitzet; andere wollen, es sey der Unrath eines Vogels, der in der Grösse einer Ente von überaus schönen Federn, um die Inseln Madagaskar und Maldiven sich aufhalte; andere geben vor, sie komme von einem gewissen Fisch; andere machen sie zu einem Meer-Schaum, oder zu einem Erd-Pech, so unter dem Meeres-Wasser hervor quillet, oder aus den Felsen hinein fällt.
Andere holen ihren Ursprung von einem gewissen Honig, so die Bienen an die Felsen setzen sollen, und das von denselben abgerissen ins Meer fällt. Noch andere haben es für ein Gewächs oder Gattung der Schwämme gehalten, so auf des Meeres Grund wachse, und durch die starcke Bewegung der Fluthen abgerissen, an das Ufer ausgeworfen werde“.
Titelblatt des „Allgemeinen Lexicon der Künste und Wissenschaften“ von 1721
Der Pottwal wird unter all diesen Theorien noch nicht einmal erwähnt. Und die Hypothese, die der Wahrheit am nächsten kommt („andere geben vor, sie komme von einem gewissen Fisch“) wird hier nur als Randnotiz, als eine Theorie unter vielen angeführt. Der Autor des Lexikons ist schließlich sogar kühn genug, selbst Stellung zu beziehen und eine der Erklärungen als die vermeintlich „wahrscheinlichste“ zu bezeichnen:
„Die wahrscheinlichste Meynung ist wohl derer, die sie für ein Erd-Pech halten, welches auf eine oder die andere Weise unter den Meeres Fluthen hervorkomme, an die Felsen ansetze, und durch die Lufft und das Meer-Wasser gehärtet, endlich aber stückweise abgerissen, und an die Ufer ausgeworffen werde.“
Erd-Pech, Baumharz, Unrat von Vögeln aus Madagaskar, Schaum aus dem Meer, Bienenhonig: Die Vielzahl der im „Allgemeinen Lexicon der Künste und Wissenschaften“ präsentierten Theorien legt beredtes Zeugnis davon ab, wie wenig selbst die Gelehrten zu jener Zeit über die tatsächliche Herkunft der Ambra wussten.
„Eine Specerey, derer Ursprung noch nicht hat können erkundigt werden“: Ausschnitt aus dem „Allgemeinen Lexicon der Künste und Wissenschaften“ von 1721
Was eigentlich auch kein Wunder ist, zumal ja Ambra nicht von allen Walen, sondern nur vom Pottwal produziert wird – und überdies längst auch nicht in jedem Pottwal zu finden ist. Die tatsächlichen Zusammenhänge zu erkennen, bedurfte also durchaus gewisser Voraussetzungen, die das Anstellen entsprechender Beobachtungen begünstigten. Wohl nicht von ungefähr brachte daher erst die in größerem Stil betriebene Jagd speziell auf Pottwale in dieser Frage Aufschluss und neue Erkenntnisse. Und so ist das Protokoll der Befragung von Kapitän Coffin zugleich auch ein einmaliges Dokument eines jener sternstundenmäßigen Augenblicke, in denen die Menschheit um neue Erkenntnisse reicher wird – und sich der Nebel der Unwissenheit, wieder einmal, etwas lichtet:
Hat Ihres Wissens irgendeiner der Wale, die zuvor von Schiffen gefangen wurden, die von Großbritannien aus segelten, Ambra enthalten?
Nicht, dass ich je davon gehört hätte. Die amerikanischen Schiffe haben allerdings bisweilen welche gefunden.
War die Ambra, die Sie gefunden haben, in einem männlichen oder weiblichen Fisch?
Sie wurde in einem weiblichen Fisch gefunden.
Ist es üblich, in getöteten Walen nach Ambra zu suchen?
Bislang war es nicht besonders üblich, dies so zu tun.
Wie kam es dazu, dass Sie die Ambra entdeckt haben?
Wir sahen, wie es aus dem Hinterteil des Wals herauskam. Als wir den Walspeck schnitten, schwamm ein Teil davon auf der Meeresoberfläche.
Ein angemessener Ort, um über Ambra zu reden: das englische Unterhaus (House of Commons) in London; Zeichnung von 1834
Schien der Wal gesund zu sein?
Nein. Sie erschien kränklich, hatte kein Fleisch auf den Knochen und war sehr alt, wie die Zähne belegen, von denen ich zwei habe. Obwohl sie rund 35 Fuß lang war, produzierte sie nicht mehr als 1,5 Tonnen Öl. Ein gesunder Fisch von derselben Größe hätte 2,5 Tonnen Öl produziert.
Haben Sie beobachtet, von welcher Nahrung sich Wale im Allgemeinen ernähren?
Der Pottwal ernährt sich nach meiner Überzeugung fast vollständig von Tintenfischen. Ich habe oft gesehen dass beim Sterben eines Wals eine Menge Tintenfische zum Vorschein kam, manchmal ganze und manchmal Teile davon. Die Schnäbel der Tintenfische waren zu finden, einige innerhalb der Ambra und einige außerhalb daran klebend.
Haben Sie jemals auf dem Meer treibende Ambra gefunden?
Ich selbst nicht, aber andere finden sie regelmäßig.
(…)
Haben Sie noch irgendwelche weiteren Informationen zu diesem Thema, die Sie dem Komitee geben können?
Wir haben generell beobachtet, dass der Pottwal, wenn er getroffen wird, seine Exkremente ausspeit. Wir vermuten dass er, wenn er dies nicht tut, Ambra in sich trägt. Ich meine, dass Ambra am wahrscheinlichsten in einem kranken Fisch zu finden ist, da ich sie für die Ursache oder die Auswirkung einer Erkrankung halte.
Das Ergebnis der Befragung ist beachtlich: Noch 70 Jahre zuvor hatte der Autor des „Allgemeinen Lexicon der Künste und Wissenschaften“ in Sachen Ambra-Herkunft klar erkennbar völlig im Trüben gestochert. 1791 hingegen erbrachte eine kurze Parlamentsanhörung eines praxisnahen Fachmanns einen Volltreffer nach dem anderen: Fast alle Beobachtungen und Einschätzungen des Walfangschiff-Kapitäns Joshua Coffin aus seinem Berufsalltag entsprechen ziemlich genau dem heutigen Forschungs- und Kenntnisstand – und zwar sowohl was Pottwale, als auch was Ambra betrifft. Was einmal mehr zeigt: Zuweilen helfen alle schlauen Bücher der Welt nicht weiter; manchmal muss man eben einfach mal einen Praktiker nach seinen Erfahrungen fragen…
Das Protokoll der Befragung von Kapitän Joshua Coffin aus dem Jahr 1791 im Original-Wortlaut: in „The philosophical transactions of the Royal Society of London“, 1809
Doch zurück zu Herman Melvilles „Moby Dick“. Darin findet sich tatsächlich eine, wenn auch nur kurz gestreifte, Thematisierung des „Amber-/Ambra-/Bernstein-Problems“. Wohlgemerkt: 1851! Was umso bemerkenswerter ist, als eben genau dieses Thema auch heute noch Menschen in der Parfum-Community und in einschlägigen Internetforen umtreibt und beschäftigt.
Herman Melville differenziert in seiner Darstellung begrifflich sehr genau zwischen Ambra, die er als „grauen Amber“ bzw. „ambergris“ bezeichnet – und Bernstein, den er „gelben Amber“ nennt:
„Damals und bis vor nicht allzu langer Zeit war nämlich selbst den Gelehrten die genaue Herkunft des grauen Ambers, wie auch die des gelben Ambers oder Bernsteins, nicht klar. Obwohl die Bezeichnungen das niemals vermuten ließen, haben grauer und gelber Amber nichts miteinander zu tun. Gelber Amber nämlich, oder Bernstein, findet sich zwar gelegentlich am Meeresstrand, aber auch weit im Binnenland, tief in der Erde, während hingegen Ambra, also grauer Amber, ausschließlich auf See gewonnen wird. Außerdem ist Bernstein hart, durchscheinend, spröde und geruchlos; man verwendet ihn für Mundstücke von Pfeifen, für Halsketten und anderen Zierrat.
Ambra hingegen ist weich wie Wachs und so würzig und wohlriechend, dass er hauptsächlich zur Herstellung von Parfum, Räucherkerzen, kostbaren Lichtern, Haarpuder und Pomade dient. Die Türken verwenden sie in der Küche und bringen sie auch nach Mekka, so wie die Wallfahrer Weihrauch zum Petersdom bringen. Manche Weinhändler tropfen ein paar Gran davon in ihren Roten, des Aromas wegen“.
Nach so viel nüchterner, lexikalisch-korrekter Sachinformation konnte sich Romanautor Herman Melville dann aber einen spöttelnden Seitenhieb auf die Liebhaberinnen und Liebhaber edler Parfums doch nicht verkneifen:
„Wer käme also darauf, dass die Damen und Herren von Welt sich an einer Essenz erquicken, welche aus dem schmählichen Gedärm eines kranken Wales stammt? Aber genau so ist es“.
Ja, in der Tat – genau so ist es…